Tabuthema Inkontinenz
Experten des Kreiskrankenhauses Frankenberg im Interview zum Tag der Inkontinenz am 30.06.2025
Zum heutigen Tag der Inkontinenz sprechen wir mit Dr. Werner Stein, Chefarzt der Gynäkologie und Geburtshilfe, und Dr. Arkadiy Radzikhovskiy, Chefarzt der Allgemein- und Viszeralchirurgie, am Kreiskrankenhaus Frankenberg. Sie sprechen über ein Thema, das noch immer viel zu oft verschwiegen wird, obwohl es Millionen Menschen betrifft: die Inkontinenz.
Guten Tag, Herr Dr. Stein und Herr Dr. Radzikhovskiy. Vielen Dank, dass Sie sich heute die Zeit nehmen, über das weitreichende Problem Inkontinenz zu sprechen und unseren Lesern einen Einblick in Behandlungsmöglichkeiten zu geben.
Harninkontinenz: Besonders Frauen betroffen
Herr Dr. Stein, geben Sie uns bitte zunächst einen Überblick über Harninkontinenz, die ja besonders Frauen betrifft?
Dr. Werner Stein: „Gerne. Harninkontinenz, insbesondere die Belastungsinkontinenz und Dranginkontinenz, ist ein sehr häufiges Phänomen. Aktuelle Schätzungen zeigen, dass in Deutschland rund 9 Millionen Menschen an Harninkontinenz leiden, wobei Frauen deutlich häufiger betroffen sind als Männer. Etwa ein Viertel der Frauen hat im Laufe ihres Lebens unwillkürlichen Urinverlust. Das kann vorübergehend sein, zum Beispiel nach einer Geburt, oder unbehandelt zu einem Dauerproblem werden. Grundsätzlich steigt der Anteil der Betroffenen mit dem Alter. Viele Frauen nehmen dies leider als altersbedingt hin, aber das muss definitiv nicht sein! Beckenbodensenkungen und die damit verbundene Harninkontinenz sind behandelbar.“
Das ist eine beeindruckende Zahl. Was sind denn Ihre ersten Ratschläge für Betroffene?
Dr. Werner Stein: „Das Wichtigste ist, das Thema nicht zu ignorieren. Schon bei den ersten Anzeichen kann man selbst aktiv werden. Oft bemerkt man beim Husten oder Niesen, dass man ein paar Tropfen Urin verliert. Spätestens jetzt, besser aber schon vorbeugend – zum Beispiel nach einer Geburt, nach operativen Eingriffen an der Gebärmutter oder vor den Wechseljahren – rate ich immer zu einfachen, aber effektiven Beckenbodenübungen. Diese lernen Sie in Kursen von Krankenkassen oder der Volkshochschule und integrieren sie nahezu überall und jederzeit in den Alltag. Machen Sie sie doch beispielsweise jedes Mal, wenn Sie an einer roten Ampel warten! Das hilft, das Training zur Routine werden zu lassen, was unerlässlich für den dauerhaften Erfolg ist. Es gibt auch spezielle Trainingshilfsmittel wie Beckenbodentrainer. Bei Dranginkontinenz hilft auch ein Verhaltenstraining unter professioneller Anleitung. Lassen Sie sich von Ihrem Arzt beraten, welche Methoden sinnvoll sind.
Neben diesen konservativen Ansätzen bieten wir in der Fachklinik in Frankenberg auch das gesamte Spektrum operativer Behandlungsmöglichkeiten an. Ihr Gynäkologe oder Hausarzt überweist Sie zur weiteren Abklärung an uns, wenn die konservativen Methoden ausgeschöpft sind. Unser Ziel ist es, jede Patientin individuell zu beraten und die beste Lösung für sie zu finden.“
Stuhlinkontinenz: Kein Grund zu schweigen
Herr Dr. Radzikhovskiy, Sie sind auf die Stuhlinkontinenz spezialisiert, ein Thema, das sogar noch stärker tabuisiert ist. Wie sieht die Situation hier aus?
Dr. Arkadiy Radzikhovskiy: „Sie haben Recht, die Stuhlinkontinenz ist leider immer noch ein großes Tabu. Dabei ist auch sie weit verbreitet. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 1 bis 5 % der erwachsenen Bevölkerung an Stuhlinkontinenz leiden, wobei die Dunkelziffer hier vermutlich noch höher ist, da viele Betroffene aus Scham schweigen. Es ist ein belastendes Leiden, das die Lebensqualität massiv einschränkt.“
Wie können Betroffene das Problem anpacken?
Dr. Arkadiy Radzikhovskiy: „Mein wichtigster Appell ist: Sprechen Sie darüber! Auch wenn es schwerfällt, ist der erste Schritt die offene Kommunikation. In vielen Fällen können wir Inkontinenz heilen oder die Situation zumindest nachdrücklich verbessern und damit die Lebensqualität deutlich steigern. Es gibt vielfältige Therapieansätze – von konservativen Methoden wie Ernährungsumstellung und Beckenbodentraining bis hin zu spezialisierten operativen Verfahren. Immer offener trauen sich Betroffene und ihre Angehörigen, über dieses Thema zu sprechen, und erfahren, dass das Problem mit ärztlicher und pflegerischer Unterstützung und speziellen Hilfsmitteln angepackt werden kann. Moderne Techniken wie der „Darm-Schrittmacher“ oder verschiedene Operationsverfahren mittels Schneiden, Veröden oder Laser-Therapie zeigen, wie weit die Medizin hier bereits ist.“
Es ist ermutigend zu hören, dass es so viele Behandlungsmöglichkeiten gibt. Abschließend: Was ist Ihre gemeinsame Botschaft zum Tag der Inkontinenz an die Bevölkerung?
Dr. Werner Stein: „Lassen Sie sich nicht von Scham abhalten, professionelle Hilfe zu suchen. Inkontinent zu sein, ist kein Schicksal, das man ertragen muss. Jede Inkontinenz ist behandelbar und kann spürbar gelindert werden, in den meisten Fällen ist sogar Heilung möglich.“
Dr. Arkadiy Radzikhovskiy: „Reden Sie mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin. Wir sind hier, um zu helfen und die Lebensqualität von Betroffenen wiederherzustellen. Wir sind als Beratungsstelle für Stuhlinkontinenz von der Deutschen Kontinenz Gesellschaft zertifiziert und können Sie mit Erfahrung und auf aktuellem Wissensstand der Forschung beraten und behandeln.“
Herzlichen Dank an Sie beide für dieses aufschlussreiche Gespräch.